Album: 1968 (2011)
Ich seh’ uns noch auf unsern Rädern sitzen,
Die Sonne schien uns mitten ins Gesicht.
Du fuhrst voran, nur ich geriet ins Schwitzen,
Wo deine Reise hinging, riet ich nicht.
Du warst die Strecke hundertmal gefahren
Und kanntest dich jenseits der Grenze aus,
Wir war’n vorm Abitur und waren voller Pläne
Und im Kopf längst aus der Schule raus.
Du warst wie ich entschlossen zu studieren,
Egal wohin, Hauptsache weg von hier.
Und du warst froh, keine Zeit zu verlieren,
Die würden dich nie einzieh’n mit T4.
Da war doch dieses Ding in deinen Knien –
Na und! Du warst doch heute kerngesund.
Ich hab’ mir niemals ganz verziehen, dass ich dich
Damals beneidet hab’: kein Zivi und kein Bund.
Dann hab’ ich lange nichts von dir erfahren,
Ich hörte nur mal ab und zu: Es ging dir gut
In Augsburg. Vordiplom schon nach zwei Jahren.
Doch dann der Anruf. Mir gefror das Blut.
Man habe dich ins Klinikum geflogen,
Doch diesmal war der Tumor im Gehirn.
Ich hoffte bloß, das war gelogen, doch die Wahrheit
Zeigte sich als kalter Schweiß auf meiner Stirn.
Der Schock saß tief, ich konnte nichts erwidern,
Dann hieß es noch: Und bitte kein Besuch!
Und meine Welt aus Büchern und aus Liedern –
Versperrt durch einen bösen Fluch.
Das war kein Traum, das war das echte Leben,
Und jetzt schlug es mit voller Härte zu.
Und ich stand wie ein Depp daneben, völlig hilflos,
Völlig fassungslos – oh Gott, wo stecktest du?
Wie viele Nächte war’n danach vergangen,
Bis ich erfuhr, dass du im Rollstuhl saßt?
All meine Wut, mein Hoffen und mein Bangen
Schienen mir plötzlich nur wie angemaßt.
Du seist nur noch ein Bündel Haut und Knochen,
Kaum wiederzuerkennen, wie es hieß.
Wie endlos waren diese Wochen, als die besten
Mediziner schließlich jeder Rat verließ.
Ein Sommertag, ein Brief mit dunklen Rändern,
Und darin stand dein Name schwarz auf weiß
Neben dem Kreuz. Da war nichts mehr zu ändern.
Die Schrift verschwamm, mir wurde kalt und heiß.
Dann auf dem Friedhof diese Grabesstille,
Die ganze Jahrgangsstufe stumm wie nie.
Das war unmöglich Gottes Wille, das war einfach
Ein Skandal, ein Unrecht, das zum Himmel schrie.
Ich geh’ noch manchmal, wenn die Blätter treiben,
Zu deinem Grab, spür’, wie die Zeit vergeht.
Ich werde älter – du wirst achtzehn bleiben,
Immer der, der lachend vor mir steht,
Der sich nicht retten kann vor Angeboten,
Der klug und sportlich und humorvoll ist.
Was suche ich dich bei den Toten, wo du doch
Für mich der Inbegriff der Lebensfreude bist.
Ich seh’ uns noch auf unsern Rädern sitzen,
Die Sonne schien uns mitten ins Gesicht.
Du fuhrst voran, nur ich geriet ins Schwitzen,
Wo deine Reise hinging, riet ich nicht.