Album: Durch die Nickelbrille gesehen (1989)
Es ist nun schon eine Zeit lang her,
Doch ich erinn′re mich noch gut daran.
Damals war unser Garten neu und leer,
Öde und farblos, halt ein Stück Land.
Dann, eines Tages, pflanzte Vater sie ein,
Die kleine Pappel, und ich glaubt′ es kaum,
So mickrig stand sie da für sich allein.
Doch es stimmte wohl: Das war ein Baum.
Sie wuchs und wuchs, und so verging die Zeit,
Die kleine Pappel verlangte Raum.
Nach ein paar Jahren war es dann so weit,
Das kleine Bäumchen war nun ein Baum.
Stark und erhaben – wie ich fand –
trotzte sie jedem Regen, jedem Sturm.
Auch meiner Erstbesteigung hielt sie stand,
Mein Versteck war sie und mein Aussichtsturm.
Ja, ihre Blätter waren saftig-grün,
Und überhaupt war sie wohl kerngesund.
Im Frühling glaubt′ ich fast, sie würde blüh′n,
Und im Herbst färbte sie sich kunterbunt.
Sie überließ das bunte Laub dem Wind,
Der auch die Nachbarn zu beschenken nicht vergaß.
Doch kleinkariert, wie manche Nachbarn sind,
Erklärte einer, das verschmutze sein Gras.
Der Umweltverschmutzung angeklagt,
War klar, die Pappel war in höchster Not.
Zwar hatt′ ich noch zu widersprechen gewagt,
Doch das Urteil lautete auf Tod.
Mit einer Motorsäge kamen sie,
Machten viel Lärm, und ich könnte schwör′n,
Dass der Baum dabei ganz leise schrie,
Doch wer will denn schon die Stummen hör′n?
Da, wo früher mal die Pappel stand,
Steht jetzt ein Tannenbaum, ihr Vetter.
Der ist willkommen, singt doch das ganze Land:
„Wie grün sind deine Blätter?“