Solang wir über Leichen geh’n

Album: Schritte (2005)

Bilder von Angst und Schrecken, ungezählten Toten,
gehör’n genauso wie das Wetter zum Programm,
rauben uns längst nicht mehr den Schlaf, doch sichern Quoten,
Nein, so schnell bricht keine Sintflut unsern Damm.
Das ist zu furchtbar für das schlechteste Gewissen,
Das ist so traurig, das ist einfach nicht mehr wahr.
Wir greifen längst nicht mehr zu irgendeinem Kissen,
So wie als Kind, wenn’s wieder viel zu spannend war.

Ein Präsident will uns von all dem Leid erlösen
und zwingt die Welt zu seinem Glück. Wir werden sehn.
Doch langsam merkt die Welt: Die Achse alles Bösen
ist immer da, wo wir uns um uns selber drehn.
Er steht am Rednerpult, beschwört die Patrioten,
er kennt die Schuldigen und er kennt ihren Ort,
ein Märchenonkel für gutgläubige Idioten.
Wie gern erzählt er aus Tausend und einem Mord!

Solang wir über Leichen geh’n,
wo nur noch weiße Fahnen weh’n,
wo Menschen laut um Hilfe fleh’n,
und wir nur stramm im Wege steh’n,
werden wir über Leichen geh’n.

Ein andrer Staatsmann will zwei Augen für ein Auge,
für einen Zahn schlägt er dir alle Zähne aus.
Und er verkündet, dass Gewaltverzicht nichts tauge,
sein selbstgerechter Zorn erschüttert jedes Haus.
Und auch sein Gegner denkt die Welt in Grund und Boden,
und viele gehen für ihn durchs Feuer, in die Luft.
und alle Schwüre sind vergänglich wie die Moden,
alle Entschuldigungen flüchtig wie ein Duft.

Solang wir über Leichen geh’n,
wo nur noch weiße Fahnen weh’n,
wo Menschen laut um Hilfe fleh’n,
und wir nur stramm im Wege steh’n,
werden wir über Leichen geh’n.

Wann sehn wir hinter bloßen Zahlen die Gesichter
der Opfer staatlich sanktionierter Barbarei?
Wann muss der höchste Henker vor den höchsten Richter,
der nicht Himmel, sondern hier auf Erden sei!
Wie lange woll’n wir noch das alte Märchen hören
vom Wert, der größer als ein Menschenleben war?
Wann werden wir uns über anderes empören
als Wer-mit-wem oder ein schwaches Börsenjahr?

Solang wir über Leichen geh’n,
wo nur noch weiße Fahnen weh’n,
wo Menschen laut um Hilfe fleh’n,
und wir nur stramm im Wege steh’n,
werden wir über Leichen geh’n.