Die Nacht kann kommen

Foto: Felix Petersen

Ganz am Rande des Weihnachtsmarktes unserer Pfarre, da wo keine Buden mehr stehen und schon der Parkplatz beginnt, dreht sich ein kleines nostalgisches Karussell. Eine ganze Welt ist da unterwegs auf ihrer Umlaufbahn unter einem rot-gelb-gestreiften Zeltdach. Um eine Mitte mit Märchenmotiven kreisen Pferde und Schwäne, ein Feuerwehrauto und ein Bus, Schlitten aus einer anderen Zeit und Gondeln, die sich um ihre eigene Achse drehen. Ein Ort wie geschaffen, die Welt probeweise zu erfahren.

Als unsere Kinder noch klein waren, wurden sie von dieser Miniaturwelt magisch angezogen. Je dunkler und kälter es wurde, desto heller und wärmer leuchtete der rotierende Planet. Und wie alle anderen Eltern gaben wir diesem Sog gerne nach, stellten uns geduldig ins Gedränge, kauften Fahrschein um Fahrschein, setzten die Kinder in ein gerade freigewordenes Gefährt und sahen ihnen in einer Mischung aus Sorge, Stolz und Sentimentalität zu, wie sie ihre Runden drehten. Wenn sie aus der Schattenseite wieder ins Licht kamen und sich unsere Blicke für einen Moment trafen, war das jedes Mal wie eine gegenseitige Rückversicherung, ein Zuspruch: Du bist da. Wir sind da. Alles ist gut. Die Nacht kann kommen, denn es wird wieder Tag.

Das Tempo des Karussells blieb immer gleich. Aber mit den Jahren änderte sich die Haltung seiner Mitfahrer. Anfangs hoben wir kleine Abenteurer, die mindestens so viel Angst wie Mut hatten, in den Sattel. Nach jeder bestandenen Runde wuchs das Selbstvertrauen genauso wie die Vorfreude auf die nächste Fahrt. Später wurde das Karussellfahren das reinste Vergnügen, ein atemloses blindes Spiel, und wir warteten gefühlte Ewigkeiten mit halb erfrorenen Füßen darauf, dass der letzte Euro der Großeltern in Billetts investiert war. Zuletzt, als unser Sohn schon lange nicht mehr mitfuhr, wurden die Runden auch von unserer Tochter mit einer ironischen Distanz absolviert: Ich fahre hier zwar mit, habe das aber eigentlich nicht mehr nötig.

Unsere Kinder brauchen die kreisende Als-ob-Welt nicht mehr. So gesehen konsequent, dass es in diesem Jahr keine Karussellfahrt gibt. Der Platz vor der Kirche bleibt leer. Jüngere Kinder werden das Karussell vermissen – wie wir die Begegnungen auf dem Weihnachtsmarkt vermissen. Begegnungen und Nähe überhaupt. Das Virus hat die Welt vorerst angehalten und keiner weiß, wann die nächste Fahrt beginnt. Uns bleibt nichts, als auf eine bessere Zeit zu warten und uns an den Zuspruch zu erinnern, der uns vom Rand her gegeben ist: Du bist da. Wir sind da. Alles ist gut. Die Nacht kann kommen, denn es wird wieder Tag.  

Frohe Weihnachten!