
An meiner Schule, dem Heilig-Geist-Gymnasium in Würselen, gab es nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer, die man mit Fug und Recht als Originale bezeichnen kann. Dabei waren ihre Unterrichtsmethoden gar nicht sonderlich originell. Aus der Sicht heutiger Lehr-Lern-Forschung machten sie sogar so ziemlich alles falsch, was man falsch machen kann: Sie unterrichteten ausschließlich frontal, hörten sich am liebsten selbst reden und wechselten nie die Methode oder gar das Medium. Trotzdem konnte man zumindest bei einigen dieser mehr oder weniger verschrobenen Typen etwas lernen – vielleicht sogar mehr als bei manchem Virtuosen zeitgenössischen kompetenzorientierten Unterrichts.
Einer, auf den das ohne jeden Zweifel zutrifft, war mein Musiklehrer. Wenn ich an ihn denke, sehe ich einen großgewachsenen grauhaarigen Mann mit einem freundlich-fordernden Gesichtsausdruck – einen Lehrer, der seinen Schülerinnen und Schülern viel zutraute, aber auch immer von ihnen erwartete, dass sie ihr Bestes gaben. Für mangelnden Ehrgeiz, Bequemlichkeit oder Lustlosigkeit hatte er kein Verständnis. Ich glaube, er verstand das als Verrat an seinem Fach, der Musik. Zwar unterrichtete er wie jeder Lehrer noch ein zweites Fach, aber das spielte für die Wahrnehmung seiner Person – und wohl auch für ihn selbst – eine derart untergeordnete Rolle, dass ich es hier besser gar nicht namentlich erwähne. Diese Farbe passt nicht ins Bild.
Was in diesem Fall auch nicht ins Bild passt, ist die übliche Klassifikation von Musik als Nebenfach. Nicht wenige Musikpädagoginnen und -pädagogen mögen es schwer haben, in den Augen von Schülerschaft und Kollegium als Autoritätspersonen gesehen zu werden, weil es in ihrem klassenarbeitslosen Fach vermeintlich nur ums Musikhören und ein bisschen Singen geht. Und wie zur Bestätigung solcher Vorurteile ist das Fach Musik oft auch das erste, das in der Stundentafel gekürzt wird, wenn es an einer Schule personell eng wird. Musik ist schön und gut, aber nicht unverzichtbar – so oder so ähnlich sehen es wohl allzu viele, die in Schulleitung und Bildungspolitik Verantwortung tragen und Entscheidungen treffen.
Solcherlei Image-Probleme hatte mein Musiklehrer nie. Im Gegenteil: Im Ranking der gefühlten Relevanz und Bedeutung war er eindeutig ganz vorne mit dabei. Spätestens beim obligatorischen Vorsingen für die Aufnahme in den Schulchor wurde jedem Fünftklässler klar, dass es dabei nicht um irgendeine Freizeitbeschäftigung, sondern um etwas überaus Wichtiges ging. Denn die alljährlichen Konzerte des Schulchores waren die unbestrittenen kulturellen Highlights eines jeden Schuljahres. Mein Lehrer war dabei nicht nur Chorleiter, sondern auch Organisator, PR-Agent, Moderator, Dirigent sowie – dank seines ausgezeichneten Bassbaritons – Solist. Und als wäre das nicht genug, trat er auch darstellerisch eindrucksvoll in Erscheinung. Mir ist er vor allem als Schulmeister in Georg Philipp Telemanns gleichnamiger Kantate in lebhafter Erinnerung geblieben, inklusive historisch perfekter Kostümierung von den Schnallenschuhen bis zur Puderperücke.
Zurück zum Vorsingen für den Schulchor, einer Art Casting-Show im Musikunterricht, lange bevor so etwas als Quotengarant für das Fernsehen entdeckt wurde. Jede und jeder aus unserer Klasse musste ein selbstgewähltes Lied zum Besten geben, von unserem Lehrer spontan auf dem Flügel begleitet. Wenn er sich danach auf seinem Klavierhocker umdrehte, sah man schon an seinem Gesichtsausdruck, ob die Kandidatin bzw. der Kandidat es in die nächste Runde geschafft hatte. Eine Art Augen-Buzzer, der eigentlich keiner weiteren Erklärungen bedurft hätte. Aber wenn er zufrieden war, gab es zusätzlich ein paar anerkennende Worte und – vor allem – die Zuweisung zu einer Stimme. Sopran oder Alt. Tenöre oder Bässe gab es in unserer Altersklasse naturgemäß ja noch nicht. Wenn er – was deutlich häufiger der Fall war – von den gesanglichen Qualitäten der Vorsingenden nicht überzeugt war, verzichtete er meist auf längere Ausführungen und ließ es bei der Bemerkung, es im nächsten Jahr noch einmal zu versuchen. Was so viel hieß wie: Geh‘ besser Fußball spielen. Und genau das taten die meisten auch viel lieber. Und so verwendeten manche beim Casting ihren gesamten Ehrgeiz darauf, ein erkennbar viel zu schwieriges Lied darzubieten und möglichst schief und heiser zu singen. Wieder andere verzichteten gleich ganz auf den Versuch, eine Melodie zu intonieren. Weil ich dagegen schon immer besser Töne als Tore treffen konnte, freute ich mich über die Aufnahme in den Chor. Sopran. Setzen.
Die Chorproben fanden ein- oder zweimal wöchentlich in der sechsten Stunde statt. So genau weiß ich das nicht mehr. Ich erinnere mich aber sehr gut an eine überaus konzentrierte Probenatmosphäre, die ich nachher in keinem anderen musikalischen Zusammenhang mehr in dieser Form erlebt habe. Wenn vom Schulhof allzu viel Geschrei in den alten Holzpavillon drang und unser Lehrer das Fenster ein bisschen zu beherzt aufriss, um die Störer zu ermahnen, konnte auch schon einmal eine Fensterscheibe zu Bruch gehen. „Schiev kapott“, meinte er einmal lapidar und setze die Probe scheinbar unbeeindruckt fort. Denn es gab viel zu tun und bestimmt sollte demnächst auch wieder eine vom Förderverein finanzierte Schallplatte produziert werden.
Disziplinierte Probenarbeit war angesichts des für Kinder anspruchsvollen Programms, das mit leichter Unterhaltung rein gar nichts zu tun hatte, in der Tat absolut notwendig. Giovanni Battista Pergolesis „Stabat mater“ gehörte genauso zum Repertoire wie Paul Hindemiths „Angst vorm Schwimmunterricht“. Mir hatten es besonders Madrigale und andere Vokalkompositionen aus Renaissance und Barock angetan, aber auch mehrstimmige deutsche Volks- und Kunstlieder. In Robert Schumanns „Im Schatten des Waldes“ hatte ich sogar ein kurzes Solo, in dem ich etwas von schwarzäugigen Mädchen sang, die den Tanz beginnen. Leider kannte ich solche Mädchen nicht, aber es klang irgendwie spannend. Und dass ich diese Passage übernehmen durfte, bedeutete mir mehr als jede gute Note in irgendeiner Klassenarbeit.
Im Musikunterricht ging es ähnlich engagiert und herausfordernd zur Sache. Nie vergessen werde ich die Beschäftigung mit unterschiedlichen Vertonungen und damit Interpretationen von Goethes „Erlkönig“. So ergreifend und schaurig wie in diesen Musikstunden habe ich die Ballade danach nie mehr wahrgenommen. Während wir im Deutschunterricht Alliterationen zählten, den Textsinn auf eine Art Fieberwahn des sterbenden Kindes reduzierten und das Erzählte damit rational erklärten, brachte unser Musiklehrer das Naturmagische und Unheimliche der Ballade voll zur Geltung. Natürlich ließ er nicht einfach eine Schallplatte laufen, sondern sang uns die Lieder selbst vor und begleitete sich dabei virtuos am Flügel. Dem Schlussvers von Carl Loewes Vertonung verlieh er eine dermaßen große Dramatik, dass es mir noch heute kalt den Rücken herunterläuft, wenn ich nur daran denke. „In seinen Armen das Kind war tot.“ Und unsere Klasse war für einen langen Moment ebenfalls vollkommen still und regungslos. Mehr Resonanz zwischen Schulstoff, Lehrperson und Schülern geht nicht.
Ein ähnlich intensives Resonanzerlebnis hatte ich einige Schuljahre später im Musikkurs der Oberstufe. Dieser Kurs lag nicht in den Händen meines Musiklehrers – um bei dieser Bezeichnung zu bleiben –, sondern wurde von einer Kollegin unterrichtet. In der Unterrichtsreihe ging es um Liederzyklen der Romantik. Ein besonderer Schwerpunkt lag dabei auf Franz Schuberts „Die schöne Müllerin“. Die theoretischen Überlegungen dazu und die Analysen einzelner Lieder waren zwar ganz interessant, aber nichts, was mich über den Unterricht hinaus beschäftigt hätte. Das änderte sich schlagartig, als unsere damals recht junge Lehrerin ihren erfahrenen Kollegen in eine Doppelstunde einlud und die beiden Schuberts kompletten Liederzyklus, also zwanzig Lieder, in unserem Kurs aufführten. Gemeinsam verwandelten sie den Musikraum in einen Konzertsaal. Und dabei legten sie sich so sehr ins Zeug, als würde das Ganze live im Fernsehen übertragen. Ich sehe noch heute die Anspannung im Gesicht meiner Musiklehrerin, deren Finger so über die Tasten flogen, dass wir das Rauschen des Bächleins hören konnten. Und mein Musiklehrer erschien uns plötzlich gar nicht mehr als der Lehrer mit Cordhose, der er war, sondern als großer Sänger und Künstler. Wahrscheinlich war er das im Grunde auch mindestens so sehr wie ein Lehrer mit Cordhose. Und ich glaube tatsächlich, dass die beiden mit ihrer Aufführung auf jeder Bühne hätten glänzen können. – „Herr Meister und Frau Meisterin.“ Das passte auch zu ihnen. Und wir bekamen eine Ahnung von der existentiellen Tiefe dieser Lieder. Die unglückliche und schließlich in den Tod führende Liebe des Müllerburschen zur unerreichbaren schönen Müllerin packte wohl nicht nur die unglücklich Verliebten unter uns so sehr, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören.
Mein Musiklehrer setzte auf die Begegnung mit Kunst, auf das musikalische Erlebnis. Und damit gelang es ihm, seine Schülerinnen und Schüler auch für musikhistorische Fragen oder die Bestimmung von Strukturen, Stil- oder Gattungsmerkmalen musikalischer Werke zu interessieren. Aber immer in dieser Reihenfolge, immer ausgehend von der musikalischen Wirkung. Er hätte nie eine Stunde damit begonnen, Arbeitsblätter zu verteilen, um dann am Stundenende die Ergebnisse zu besprechen. Jede unterrichtliche Beschäftigung ging von der Musik selbst aus und führte auch wieder zu dieser zurück. Dass er dabei selbst häufig und gern als Musiker in Erscheinung trat, könnte leicht als Eitelkeit missverstanden werden. Und die war ihm sicherlich auch nicht ganz fremd. Aber im Grunde zeugten diese „Auftritte“ von einer ungeheuren Wertschätzung seiner Schülerinnen und Schüler. Er wollte uns nicht nur etwas beibringen, sondern uns für die Musik begeistern.
Wer Begeisterung vermitteln will, muss selbst begeistert sein. Und sich auch auf seine Sache, auf sein Fach verstehen. Beides war bei meinem Musiklehrer definitiv der Fall. Auch wenn er vielleicht nicht der Typ Lehrer war, zu dem Schülerinnen und Schüler eine besonders enge persönliche Bindung entwickeln, haben nicht wenige von ihnen durch ihn die Liebe zur Musik entdeckt oder intensiviert. Und viele davon sind dieser Liebe in der einen oder – wie bei mir – anderen Form treu geblieben. Töne sind wie Farben und jeder malt damit ein anderes, sein eigenes Bild. Wenn es ein Lehrer schafft, solche Resonanzen zu erzeugen, die auch nach der Schulzeit weiterschwingen, dann muss es ein sehr guter Lehrer gewesen sein.
Vor einigen Wochen fiel mein Blick auf eine Traueranzeige in der Zeitung. Mein Musiklehrer ist im Alter von 85 Jahren verstorben.