
Es ist schon dunkel, als wir das Deck des orangefarbenen Riesen betreten. Ich wollte die gut zwanzigminütige Fahrt mit der Fähre eigentlich erst am nächsten Tag machen, um den Blick auf Skyline und Freiheitsstatue bei dem wunderbar warmen Herbstlicht zu genießen, in das die Stadt seit unserer Ankunft am Vortag gehüllt ist. Aber wie gut, dass ich auf meinen Sohn gehört habe, der die Staten Island Ferry noch am selben Abend nehmen will. Weil wir doch ohnehin schon in Lower Manhattan unterwegs sind.
Das Panorama der unzähligen erleuchteten Fenster, die über dem Whitehall Terminal wie ein Meer von Sternen funkeln, ist vom ersten Moment an faszinierend. Je weiter wir uns in der Upper New York Bay von Manhattan entfernen, desto vollständiger wird unsere Sicht auf die Skyline, die alles übertrifft, was man je an Bildern und Filmen davon gesehen hat. Ich packe meine Canon aus dem Rucksack und will gerade die erste Aufnahme machen, als hinter mir jemand „For the homeless and the hungry“ ruft. Ich fühle mich gestört. Wieder irgendein lästiger Geselle, der es auf das Geld von Touristen abgesehen hat. Ich drehe mich nicht nach ihm um und suche an meiner Kamera eine passendere Einstellung für die nicht ganz einfache Belichtungssituation.
Wann hat man je eine so überwältigende Kulisse gesehen? Ich mache ein paar Aufnahmen von meinem Sohn, er macht ein paar von mir. Immer deutlicher hebt sich jetzt die hell angestrahlte Freiheitsstatue vor dem dunklen Himmel ab. Vor einigen Jahren habe ich eine kleinere Kopie in Colmar, dem Geburtsort ihres Schöpfers Frédéric-Auguste Bartholdi, gesehen. Damals war ich schon ziemlich beeindruckt, aber das Original ist dann doch noch einmal etwas ganz anderes. Ich frage mich, was der Anblick dieser monumentalen Statue für die Menschen bedeutet haben mag, die nach wochenlanger Schiffsreise über den Atlantik, nach Erfahrungen von Verfolgung und Armut endlich in dem Land ankamen, in das sie all ihre Hoffnungen gesetzt hatten. Und auch heute, in dieser von Krieg und Katastrophen gebeutelten Welt, wirkt dieses Freiheitssymbol wie die Verheißung einer besseren, einer friedlichen Zeit. Ich rufe mir die Schlussverse des Sonetts von Emma Lazarus in Erinnerung, das im Sockel der Lady auf einer Bronzetafel verewigt ist: „Send these, the homeless, tempest-tossed to me, / I lift my lamp beside the golden door.“
Das goldene Tor. Mir ist, als hätten auch wir es durchschritten, mein Sohn und ich, mit dieser Reise, die schon so lange auf meinem Wunschzettel stand. – „For the homeless and the hungry“, höre ich die Stimme von vorhin wieder. Der Rufer ist ein Afroamerikaner mit Schiebermütze und Rucksack, vielleicht in meinem Alter. Auf dem grauen T-Shirt lese ich in großen Lettern das, was er ruft: „Free food for the homeless and the hungry“. Ich versuche, ihn zu ignorieren, und kontrolliere auf dem Kameradisplay meine bisherigen Fotos von der Statue of Liberty. Sie sind allesamt nicht ganz scharf, was vermutlich daran liegt, dass sich die Fähre für die langen Verschlusszeiten zu schnell fortbewegt. Ich bin unzufrieden und probiere, ob mit dem Handy vielleicht sogar schärfere Bilder gelingen. Naja. Auch nicht überzeugend.
Der Rufer ist schon fast durch die Tür am Ende des Decks verschwunden. Und als würde sich diese Tür für immer für mich verschließen, laufe ich ihm, einem plötzlichen Impuls folgend, nach und ziehe das Portemonnaie aus der Hosentasche. „Mister“, beeile ich mich und stecke einen Dollarschein in seine Sammelbüchse, als er sich umdreht und mich ansieht. „God bless you“, sagt er freundlich, bevor das nächste „For the homeless and the hungry“ nur noch wie ein fernes Echo klingt. Und dann glückt es mir doch noch: ein scharfes Bild von der Freiheitsstatue.
Frohe Weihnachten!