
In der Musikkomödie „Yesterday“, die seit zwei Wochen in den deutschen Kinos zu sehen ist, entwerfen Danny Boyle (Regie) und Richard Curtis (Drehbuch) eine Welt, in der es die Beatles und ihre Musik nie gegeben hat. Zumindest sind sie nach einem weltweiten Stromausfall aus dem kulturellen Gedächtnis der Menschheit getilgt. Nur der bis dato erfolglose Singer-Songwriter Jack Malik kann sich an ihre Lieder erinnern. Von den begeisterten Reaktionen seiner Freunde auf seine Beatles-Cover überrascht und überwältigt, gibt er sie fortan als seine eigenen Songs aus und wird schließlich zum Megastar und als größter Songwriter und Musiker aller Zeiten gefeiert.
Eine originelle Filmidee, die für gute Unterhaltung sorgt und die großartigen Songs der Beatles ganz nebenbei auch einer Generation bekannt machen dürfte, die im unendlichen Angebot der Musik-Streaming-Dienste bevorzugt oder ausschließlich nach aktuellen Hits sucht. Dass die Songs der Beatles da mindestens mithalten können, machen die für den Soundtrack neu eingespielten und von Hauptdarsteller Himesh Patel selbst gesungenen Versionen mehr als deutlich. Gerade der erzählerische Kunstgriff der Trennung der Songs von ihren charismatischen Machern erweist den Kompositionen der Beatles die denkbar größte Ehre: Sie sind nicht abhängig von einem soziokulturellen Phänomen der sechziger Jahre, sondern zeitlos gültig, zeitlos schön. Und werden darum auch in der Gegenwart wieder zu Welthits. Ob das wirklich so wäre, ist eine andere Frage, die der Film aber nicht stellen und schon gar nicht beantworten muss.
Unstrittig aber wäre die Geschichte der Popmusik ohne die Lieder und Arrangements der Beatles eine andere. Dass es in der Welt des Films auch keine Band namens „Oasis“ mehr gibt, wie Jack in einer der besten Szenen durch gezieltes Googeln herausfindet, ist da nur konsequent. Auch dass Ed Sheeran, der sich im Film selbst spielt und dabei eine große Portion Humor und Selbstironie beweist, ganz ohne die Beatles dieselben Songs geschrieben hätte, darf bezweifelt werden. Und vermutlich muss man sich als Songwriter nicht einmal zu den Beatles-Fans zählen, um von ihnen – unmittelbar oder mittelbar – beeinflusst zu sein.
Das erste Lied, das Jack Malik auf seiner neuen Gitarre anstimmt, ist nicht zufällig das titelgebende „Yesterday. Gestern war eben noch alles anders. Auf YouTube findet sich ein Video der für den Film gemachten Neuaufnahme des wohl bekanntesten Songs der Beatles. Zu Beginn sieht man Darsteller und Sänger Himesh Patel, wie er die von unzähligen Beatles-Pilgern bekritzelte Mauer vor den Abbey-Road-Studios passiert und die Stufen zur wohl berühmtesten Studiotür der Welt hochläuft. Den Gitarrenkoffer in der rechten Hand. Glaubt man den Angaben im Vorspann, singt und spielt er den Song live im Studio, begleitet nur von wenigen Studiomusikern. Großartig!
Vorgestern war ich selbst in der Abbey Road Nummer 3 und habe die Magie dieses legendären Ortes, an dem die Beatles – und neben ihnen auch andere Größen wie Pink Floyd – fast alle ihre Alben aufgenommen haben, auf mich wirken lassen. Und ich habe mich gefragt, an welche Beatles-Songs ich mich erinnern würde, wenn sie – wie im Film – plötzlich aus dem kollektiven Gedächtnis und auch aus meinen Platten- und CD-Regalen verschwunden wären. Ganz schön viele, glaube ich, auch wenn ich mit der Rekonstruktion der Texte wahrscheinlich doch meine Probleme hätte. Wichtiger als einzelne Songs sind mir persönlich aber ohnehin bestimmte Erinnerungen, die mit den Beatles verknüpft sind und so etwas wie Wegweiser für meine eigene musikalische Sozialisation und Entwicklung waren.
Zum Beispiel erinnere ich mich an eine Musikstunde aus meiner Schulzeit. Es muss in der fünften oder sechsten Klasse gewesen sein, als unsere sonst eher klassisch ambitionierte Lehrerin auf die ausgesprochen gute Idee kam, uns „Eleanor Rigby“ und Penny Lane“ vorzuspielen und die Texte und Kompositionen mit uns zu besprechen. Zwar war mir damals bewusst, dass diese Band schon seit mehr als zehn Jahren nicht mehr existierte und daher irgendwie von gestern war, doch sprachen mich diese Songs ungeheuer an. Mit meinem besten Schulfreund, dem es wohl genauso ging, machte ich mich dann in den folgenden Wochen direkt ans Verfassen eigener Songs. Natürlich auf Englisch. Oder was wir dafür hielten.
Die Beatles waren es dann auch, die mich zum Kauf meiner ersten Schallplatte überhaupt animierten. Ich weiß noch, wie ich in den kleinen Plattenladen am oberen Ende der Kaiserstraße ging und nach dem „Roten Album“ fragte. Das war nämlich eine der Platten, die unsere Musiklehrerin aufgelegt hatte. Leider nur ein nach der Trennung der Band von der EMI veröffentlichtes Best-of-Album der frühen Hits (1962-1966) und keine authentische Beatles-Platte. Aber immerhin. Als Einstiegsdroge hat es seine Wirkung nicht verfehlt. Das komplementäre „Blaue Album“ mit den Hits der späteren Phase (1967-1970) habe ich mir merkwürdigerweise nie zugelegt, obwohl mir diese Lieder mindestens ebenso gut gefielen. Wahrscheinlich, weil ich dann doch lieber die Originalalben kennenlernen wollte. Das sogenannte weiße Album („The Beatles“) aus dem Jahr 1968 war dann auch für lange Zeit meine absolute Lieblingsplatte; die darin enthaltenen Porträtfotos der Fab Four hingen selbstverständlich in meinem Zimmer an der Wand. John Lennon war für mich gleich in doppelter Hinsicht ein Vorbild: zuallererst natürlich als Musiker, aber auch – und zunehmend mehr – als moralische Instanz.
Vorgestern in der Abbey Road habe ich mir dann im angegliederten Shop noch ein Album gekauft, das ich bislang nur als Kassette besessen und daher ewig nicht mehr gehört hatte: „Abbey Road“, die letzte Platte der Beatles, die sie als Band gemeinsam einspielten. Und mit „Something“ und „Here Comes the Sun“ sind sicherlich zwei der besten Beatles-Songs überhaupt auf diesem wunderbaren Album vertreten. Beide geschrieben und gesungen von George Harrison.
Wir waren nicht die Einzigen, die sich vor den Abbey-Road-Studios eingefunden hatten. Und schon gar nicht die Einzigen, die einmal über den berühmtesten Zebrastreifen der Welt gehen wollten. Menschen aus allen Ländern kamen und gingen im Minutentakt. Junge und nicht mehr ganz so Junge, Männer und Frauen. Alle mit dem Ziel, das ikonische Cover des 69er-Albums nachzustellen und sich dabei fotografieren zu lassen. Übrigens fast auf den Tag genau fünfzig Jahre nach der Aufnahme des Originalfotos. Manche machten auch ziemlich verrückte Verrenkungen in der Mitte des Zebrastreifens oder verliehen ihrer Verzückung lautstark Ausdruck. Alles zur Feier des Augenblicks. Zur Feier der eignen Begeisterung, der eigenen Erinnerung. Zur Feier der Beatles.
Nur eine junge Mutter fiel aus dem Rahmen. An der einen Hand hielt sie ihre kleine Tochter, an der anderen deren lila-pinkfarbenen Rucksack. Die beiden gingen einfach über den Zebrastreifen, weil sie von der einen auf die andere Seite der Abbey Road wollten. Schnell und auf den Straßenverkehr konzentriert. Als hätte es die Beatles nie gegeben.
