Goldene Zwanziger

Foto: Christoph Birken

Einer meiner Lieblingstexte stammt von Franz Kafka und heißt „Der Aufbruch“. Die kurze Parabel, in der das erzählende Ich sein Pferd sattelt, um ohne jeglichen Proviant zu einem Ziel aufzubrechen, das es lediglich mit „Weg-von-hier“ beschreibt, endet mit dem rätselhaften Satz „Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.“

Ist es ein Glück, dass die Reise wahrhaft ungeheuer ist? Dann verlöre das Ungeheuerliche seinen Schrecken und würde zum Möglichkeitsraum, der sich hinter dem Bekannten und Vertrauten eröffnet. Das eigentlich Bedrohliche wäre dann in der Berechenbarkeit geplanter Wege zu sehen. Oder ist in diesem letzten Satz vielmehr von einer Reise zum Glück die Rede? Dann wäre das Glück das Ziel des Reisenden – ein Ziel, das nur erreichen kann, wer sich auf Neues einlässt und dabei auch Ungeheures riskiert. So oder so: Der Aufbruch ist von existenzieller Bedeutung.

Kafka hat den kleinen Text im Jahr 1922 geschrieben, am Beginn eines turbulenten Jahrzehnts, das häufig als „Goldene Zwanziger“ bezeichnet wird. Ein Aufbruch nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, eine Blütezeit der Freiheit in Literatur, Kunst, Musik und Wissenschaft, die mit der Weltwirtschaftskrise und dem Aufstieg des Nationalsozialismus ein schreckliches Ende fand. Aufbrüche sind immer ein Wagnis, immer eine Reise mit unbekanntem Ausgang. Aber eben auch unvermeidbar, wenn man nicht stehenbleiben will. Weg von hier. Zum Glück.

Roaring Twenties oder Boring Twenties? Heute, am ersten Tag des neuen Jahres und am Beginn der neuen Zwanziger Jahre, frage ich mich, welche Aufbrüche vor mir liegen und ob ich – wie der Reiter in Kafkas Parabel – bereit bin, mich auf den Weg zu machen. Dabei ist immer ein Moment der Unverfügbarkeit im Spiel, wie die Erfahrung lehrt. Die entscheidenden Aufbrüche im Leben sind nicht von langer Hand geplant und nicht das Ergebnis langer Entscheidungsprozesse. Sie sind eher ein Antworten auf ein Signal, das sich vielleicht mit der Trompete vergleichen lässt, die Kafkas Ich-Erzähler in der Tradition romantischer Lyrik plötzlich hört: „In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen […]“.

Einer der Songs, die ich Anfang des Jahres auf meinem neuen Album vorstellen möchte, erzählt von solchen Aufbrüchen. Er hatte ursprünglich fünf Strophen, musste dann aber noch um eine sechste ergänzt werden, um für mich authentisch und wahrhaftig zu bleiben. Es ist vielleicht das persönlichste der vierzehn neuen Lieder. Und ganz bestimmt nicht das, was man gemeinhin als erste Single auskoppeln würde. Aber darum geht es – zum Glück – ja nicht.

Jeder Aufbruch ist anders. Auch in meinem Lied. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Aufbrüchen allerdings, dass danach nichts mehr so ist wie davor. „Vun do ahn woor nix wie bessher, op einmohl woor irjendjet passiert“, singt Wolfgang Niedecken in einem thematisch durchaus verwandten Song.

Mit meinem Lied „Was für ein Aufbruch“, das ich noch nie live gespielt habe, aber an dieser Stelle schon einmal als Demo-Mix veröffentliche, wünsche ich euch allen das Beste, Glück und Gesundheit für das neue Jahr! Wer weiß, wie die ungeheure Reise weitergeht und welche Aufbrüche sie mit sich bringt! Achtet auf die Trompete! (In meinem Lied ist die Trompete übrigens ein Flügelhorn, wunderbar gespielt von Martin Schädlich.) Viel Spaß beim Hören!

FROHES NEUES JAHR und GOLDENE ZWANZIGER!

Was für ein Aufbruch (Text & Musik: Christoph Birken)