Berufswunsch Sängerin

Was wollte ich nicht alles werden, als ich klein war! Mein erster Berufswunsch war Müllmann oder – wie man heute korrekt sagen sollte – Fachkraft für Kreislauf- und Abfallwirtschaft. Diese Bezeichnung gab es Anfang der Siebzigerjahre aber noch nicht. Und sie hätte mir damals wohl auch weit weniger imponiert, als ich aus dem Fenster unserer Mietwohnung im ersten Stock fasziniert beobachtete, wie die Männer in orangefarbenen Latzhosen vom Mülltransporter absprangen, die runden Blechtonnen in den Hecklader beförderten und sich anschließend wieder auf die kleinen Trittflächen schwangen, um zum nächsten Haus weiterzufahren. Überhaupt war das der entscheidende Moment: dieses lässige Aufspringen und Weiterfahren. Später gab es noch andere Berufswünsche: Höhlenforscher, Privatdetektiv, Formel-1-Fahrer oder Journalist. Lehrer war nie dabei. Das war ja schon mein Vater. Trotzdem habe ich heute das Gefühl, für mich das Richtige gefunden zu haben: Sprache, Literatur, Beziehungen – berufswunschlos glücklich.

Unsere Tochter will Sängerin werden. Und das nicht erst seit gestern; sie sagt das nun schon seit Jahren auf die beliebte Frage, was sie später einmal werden wolle. Popsängerin – ein Kindheitstraum, der sich nahtlos einreiht in die Liste der Traumberufe: Detektiv, Rennfahrer, Popsängerin. Aber es gibt da einen entscheidenden Unterschied: Während ich nie eine Höhle erforscht oder einen Rennwagen gefahren habe, macht Carlotta die ersten konkreten Schritte auf dem Weg zu ihrem Ziel. Keine Frage, dass ich sie dabei unterstütze: Gleich zweimal sind wir in den letzten Wochen gemeinsam vor größerem Publikum aufgetreten: beim Ehrenamtsabend der Stadt Würselen auf Burg Wilhelmstein und beim Musikabend des St. Ursula-Gymnasiums in Aachen.

Auf der beeindruckenden Freilichtbühne der Burg haben wir – gemeinsam mit den Kindern des städtischen Familienzentrums „Lebens-Spiel-Raum“ – meinen Song „Sonne, Frosch, Marienkäfer“ aufgeführt. Dass diese inzwischen dreizehn Jahre alte Kindergartenhymne von den Kleinen und ganz Kleinen immer noch mit leuchtenden Augen gesungen wird und für gute Laune, Identifikation und Zusammenhalt sorgt, freut mich sehr. Daher lasse ich mich auch nicht lange bitten, wenn das Lied wieder einmal irgendwo aufgeführt werden soll. Wenn dann noch meine Tochter mitmacht und sogar eine Strophe solo singt, ist das natürlich besonders schön. Sich das vor mehreren Hundert Zuhörern zu trauen, ist für eine Dreizehnjährige schon allerhand, finde ich. Wer ein Ziel hat, muss die Gelegenheiten, die sich bieten, nutzen. Aufspringen und weiterfahren.

Beim gut besuchten Musikabend der Schule haben wir zwei Popsongs gecovert, „Price Tag“ von Jessie J und „Bye Bye“ von Sarah Connor. Vor dem Auftritt war die Nervosität groß, zumal Carlottas Oma ebenfalls im Publikum saß. Da galt es alles zu geben, denn die Oma hat selbst ihr Leben lang gesungen; kein falscher Ton entgeht ihr. Die Oma, meine Mutter, wollte ebenfalls Sängerin werden, als sie jung war. Neben der Leidenschaft für das Singen hatte sie wohl auch das nötige Talent dazu. Ihrem Gesangslehrer, der das erkannt hatte, war es gelungen, sie zu einem Vorsingen an der Kölner Musikhochschule anzumelden. Meine Mutter nutzte diese Chance und überzeugte das Auswahlgremium: Sie bestand die Aufnahmeprüfung. Aber weil sie als älteste Tochter einer großen Familie Verantwortung für die jüngeren Geschwister übernehmen musste, legten die Eltern ihr Veto ein. Aus der Traum.

Oder doch nicht? Meine Mutter hat die Leidenschaft für das Singen – und ihre Sopranstimme – bis heute nicht verloren. Sie war immer eine Sängerin und ist es geblieben. Sie musste es nicht erst werden oder zum Beruf machen. Entscheidend ist, was man tut, wer man ist. Insofern ist Carlotta schon jetzt eine Sängerin. Und ich bin glücklich, mit ihr auftreten zu können, mich dabei selbst im Hintergrund zu halten und ganz auf das Gitarrenspiel zu konzentrieren. Eine neue Rolle für mich, die ich gerne annehme und ausbaue, zum Beispiel durch Produzieren und Veröffentlichen weiterer Akustik-Coverversionen auf unserem gemeinsamen YouTube-Kanal cbCOVER.

Ein Ziel vor Augen zu haben, ist wichtig. Aber mehr als große Sprünge, die auch misslingen oder entmutigen können, zählen oft kleine Schritte. Hier ein Auftritt in der Schule, da eine kleine Aufführung im Freundeskreis. „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken“, sagt Beppo Straßenkehrer, ein literarischer Verwandter der Fachkräfte für Kreislauf- und Abfallwirtschaft, in Michael Endes „Momo“. „Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.