
Zufall ist das, was einem zufällt, heißt es. Und es scheint fast so, dass mir Begegnungen mit bedeutenden Schriftstellern aus dem österreichischen Vorarlberg zufallen. Als Student durfte ich den damals international gefeierten Robert Schneider kennenlernen, dessen 1992 erschienener Debütroman mich so beeindruckt hatte, dass ich dessen musikalische Erzählstruktur in meiner Examensarbeit im Fach Germanistik untersucht habe. Bei den Recherchen zu meiner Arbeit Literatur als Komposition in der Vorarlberger Landesbibliothek in Bregenz traf ich den seinerzeit von mir verehrten Autor höchstpersönlich. Der wiederum recherchierte dort für seinen neuen Roman Die Luftgängerin. Das kurze Gespräch auf dem Bibliotheksflur setzten wir in einem Bregenzer Café und zwei Tage darauf bei ihm zu Hause im Bergdorf Meschach fort. Einen ganzen Nachmittag konnte ich mit ihm über seinen Welterfolg Schlafes Bruder und über meine Überlegungen dazu reden, über seine und meine Lieblingsbücher und auch über musikalische Interessen. Überhaupt war er ganz und gar nicht der schwierige Typ, als der er in den Medien dargestellt wurde. Noch heute blicke ich ein wenig ungläubig auf diese Tage im Dezember 1996 zurück.
Als ich meine Staatsarbeit in der Vorarlberger Landesbibliothek vorbereitete, wohnte ich bei meinen Verwandten in Wolfurt, einem kleinen Ort zwischen Bregenz und Dornbirn. Damals konnte ich noch nicht wissen, dass im Haus gegenüber ein Autor aufgewachsen war, dessen Rang innerhalb der deutschsprachigen Literatur – zumindest nach den Maßstäben der Literaturkritik – einmal sogar noch über dem Robert Schneiders liegen würde. Dabei war Arno Geiger für mich durchaus kein Unbekannter: Zum einen war sein älterer Bruder Peter schon damals mit meiner Cousine Ursula verheiratet, zum anderen hatte ich als Kind während unserer Familienurlaube in Wolfurt ganz sicher mit ihm gespielt. Denn auf der Wiese neben dem Haus meiner Verwandten waren so gut wie immer auch die Geiger-Kinder, was neben meinen Erinnerungen auch Fotos aus dieser Zeit bezeugen. Der kleine Arno war genau in meinem Alter. Auf einem dieser Bilder steht mein Vater, offenbar Lehrer durch und durch, an einer Klapp-Kreidetafel im Garten und schreibt die Namen der um ihn versammelten Kinder – darunter auch die Geigers – darauf. Und als sei das noch nicht kurios genug, trägt er dabei auch noch Anzughose und weißes Hemd. Im Hochsommer wohlgemerkt.
Auch Arno Geiger erinnert sich an diese Sommer mit den Kindern der deutschen Verwandtschaft seiner Nachbarn. Vor gut zwei Wochen hatte ich die Gelegenheit, ihn in Aachen wiederzusehen. Anlass dieses Treffens war die Veranstaltung „Lehrerausbildung trifft Literatur“, die ich für die Deutsch-Referendarinnen und -Referendare der Seminarstandorte Jülich und Aachen organisiert habe. Die einmalige Chance, den Autor eines in Nordrhein-Westfalen abiturrelevanten Romans einzuladen und ihn mit angehenden Lehrerinnen und Lehrern ins Gespräch zu bringen, konnte ich mir im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit als Fachleiter für Deutsch nicht entgehen lassen. Zwar war die Hoffnung groß, dass ich ihn für diese Idee gewinnen könnte, doch die Freude darüber, dass ihm das Veranstaltungskonzept tatsächlich gut gefiel und er meine Einladung annahm, war noch wesentlich größer. Beim Überbringer so guter Nachrichten – er meinte die Aufnahme von Unter der Drachenwand in die Obligatorik für den Leistungskurs Deutsch in NRW – revanchiere er sich selbstverständlich mit ebenfalls guten Nachrichten, schrieb er mir damals.
Etwa ein Jahr lang habe ich diesen Abend organisatorisch und inhaltlich vorbereitet, nachdem ich Arno Geigers Zusage hatte. Natürlich habe ich auch sämtliche verfügbaren Interviews und Rezensionen zur Drachenwand studiert und – nicht zuletzt – den Roman selbst sowie andere Teile des mittlerweile umfangreichen Gesamtwerks wieder und wieder gelesen. Das alles in der Überzeugung, dass sich der Aufwand mehr als nur lohnen würde. – Und genauso war es. Arno Geiger war ein wunderbarer Gesprächspartner, der ebenso feinsinnig wie humorvoll und klug über seine eigene Schulzeit, seinen Weg zum Schreiben und über seinen Roman Unter der Drachenwand erzählte. Zu hören, wie er ausgewählte Textpassagen daraus selbst las und den erzählenden Figuren seine Stimme lieh, war nicht weniger faszinierend. Die einfühlsamen Saxophon-Improvisationen meines Freundes Harald Claßen trugen ein Übriges zur intensiven Wirkung der verschiedenen Leseblöcke bei. Arno Geiger zeigte sich von Haralds Spiel hinterher so angetan, dass er sich scherzhaft fragte, warum er den Brasilianer, die wohl wichtigste Nebenfigur des Romans, eigentlich Gitarrenmusik von Villa-Lobos hören lasse. Von Letzterem gebe es nämlich auch Kompositionen für Sopran-Saxophon. Wenn das kein Kompliment ist! – Komplimente haben auch Hicret Aslan, Pascal Engels und mein Kollege Dr. Peter Peters verdient, die gemeinsam mit mir eine der Gesprächsrunden moderiert haben. Ich bin sicher, nicht nur für uns Beteiligte auf der Bühne, sondern auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer war der Abend überaus inspirierend und ein ganz besonderes kulturelles Highlight, das noch lange nachklingen wird.
Nicht weniger spannend als die Gespräche vor Publikum war für mich der private Austausch mit Arno Geiger vor und besonders nach der Veranstaltung. Weil wir wegen der heiklen Corona-Situation lieber kein Restaurant mit vielen Menschen auf engem Raum betreten wollten, saßen wir noch eine Weile in der Lobby des Hotels. – „Ich wollte immer Schriftsteller werden“, meinte er, als wir uns über unsere jeweilige Studienzeit und damalige berufliche Pläne unterhielten. Als ich am späteren Abend durch das nasskalte Novemberwetter – vorbei am Aachener Weihnachtsmarkt – zum Auto zurückging, musste ich noch lange über diesen einfachen Satz nachdenken. Vor allem über den Nachdruck, mit dem er ihn in seinem vorarlbergischen Akzent gesprochen hatte.
Robert Schneider wollte nach eigenem Bekunden immer Musiker werden. Literatur als Komposition. Vielleicht ist das der Grund, warum er schon lange keinen Roman mehr veröffentlicht und sich schon vor vielen Jahren weitgehend aus der literarischen Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Bei Arno Geiger – da bin ich ganz sicher – steht das nicht zu befürchten. Er macht, was er am meisten liebt. Literatur als Literatur.